Rio – Zürich einfach

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Unser Gastschreiber Alexandre Hannemann stammt aus Rio de Janeiro. Wie er nach Zürich kam, wo er heute mit seiner Familie in der Altstadt lebt, erfahren Sie im folgenden Beitrag.

Ich gehöre zu denen, die von der Stadt ins Dorf gezogen sind. Von der südlichen Hemisphäre in die nördliche. Von einer Megacity in die Schweizer Grossstadt – wo doch überall die Vögel zwitschern. Von Rio ins Niederdorf. – Ich war zwölf, als mein Leben in Europa begann. Meine Eltern schickten mich an den Bodensee ins Internat in die Schule Schloss Salem. Schlafen im Acht-Bett-Zimmer, Morgenlauf oben ohne, einmal pro Woche warm duschen. Der Mittwoch hiess Schumi – Schuhmittwoch. Das bedeutet Appell stehen und die hoffentlich geputzten Schuhe vorzeigen. Sonst gabs ein Ex. Am Samstagnachmittag musste man alle Exen ablaufen – und Gott weiss, ich hatte viele Exen.

Kontakt mit der Hotellerie
In den Ferien flog ich zurück nach Brasilien. Immer über Kloten. Über Jahre hinweg sah ich auf dem Weg zum Flughafen durch die Autoscheibe hindurch das grosse Schild, das über der Schaffhauser Bierbrauerei thronte: «Falken Bier». Das war für mich die Schweiz. Und natürlich der auf Hochglanz polierte Flughafen.
Meine Schwester und ich durften oft mit Papa reisen. Er war in der Tabakbranche tätig und viel unterwegs. Als meine Schwester mit vierzehn professionell zu golfen anfing, verbrachten wir die Sommerferien in Florida auf dem Rasen. Golfen durfte ich nicht, da alle Plätze für die Turniere blockiert waren. Nach zwei Tagen hatte ich alle Filme auf dem Kabelfernsehkanal HBO gesehen und sechs Wochen alleine im Hotelschwimmbad zu verbringen war auch kein Spass. Kinder in meinem Alter gab es keine, denn sie waren alle am Golfen…
Da blieb mir nur der Hotel-Resort-Restaurant-Staff übrig, um mich anzufreunden. Und manchmal durfte ich auch mit hinter die Kulissen. Meine Freundschaften brachten der ganzen Familie Vorteile: Wir bekamen die schönsten Tische im Restaurant, wurden beim Essen immer schnell bedient und das Dessert aufs Haus war mir und meiner Schwester sicher, selbst wenn meine Eltern zu protestieren versuchten! Dadurch bin ich viel mit der Hotellerie in Kontakt gekommen. Und bald war für mich klar: Nach der Matura wollte ich auf die Hotelfachschule.
Aber meine Eltern wollten, dass ich Anwalt oder Arzt werde. (Kein Scherz.) Um mich umzustimmen, schickten sie mich in den Sommerferien in den Copacabana Palace, ein altehrwürdiges Haus. Ich wurde als «Mädchen für alles» engagiert und nicht mit Samthandschuhen angefasst! Am meisten beeindruckt hat mich der Posten als Bellboy. Ich war in Rio, natürlich war es heiss. Tagein, tagaus brutzelte ich am Eingang des Hotels – in meinem weissen Anzug mit Handschuhen und Kappe –, um die frisch eingetroffenen Gäste zu begrüssen. Ihr Gepäck aufs Zimmer oder einen Brief in die Lobby zu bringen. Dann musste ich wohl oder übel wieder zurück zur Pforte. Sie kamen aus aller Welt, die Gäste. Die Deutsch- und die Englischsprachigen unter ihnen vermochte ich zu verblüffen. Die wenigsten Angestellten konnten nämlich eine zweite Sprache neben Portugiesisch.
Wenn auch nicht unbeeindruckt von den Stunden in der sengenden Hitze entschied ich mich trotzdem für die Hotellerie. Also begann ich nach der Matura das Studium an der Hotelfach-schule Luzern.

Neues Daheim
Eines meiner ersten Praktika führte mich in die Zürcher Altstadt – ins «Münsterhöfli». Es waren die Zeiten vor der Wirtschaftskrise – da wurde noch aus dem Vollen geschöpft: Champagner, Weisswein, Rotwein, Schnaps und Zigarren waren gang und gäbe – über Mittag. Das waren noch Spesenkonten!
Und später dann wieder Altstadt. Lange Jahre war einer der schönsten Gärten der Stadt mein Zuhause. Der des Restaurants «Neumarkt», wo ich fünfzehn Jahre Geschäftsführer war. Gewohnt habe ich an der Niederdorfstrasse 3, zum Rosenhof. Aber mit den Kindern wurde die Wohnung bald etwas eng. Wir durften an die Spiegelgasse zügeln. Obwohl es nur ca. zwei-hundert Meter Luftlinie sind zur alten Wohnung ist es so, als ob wir in eine neue Stadt gezogen wären. Der Zusammenhalt unter den Bewohnern des Leuenplätzli ist für mich etwas Aussergewöhnliches. Hier hilft man sich einfach. Schaut aufeinander.
Die Kinder können alleine draussen spielen. Und wenn im Sommer der See unerreichbar erscheint, ist ein Bad im Brunnen gewiss! – Die Welt ist mein Zuhause, aber daheim fühle ich mich in der Altstadt.

Manchmal kommt die Sehnsucht
An Sommersonntagen, wenn ich am See an einem Stängeliglacé lutsche, dann packt mich schon manchmal die Sehnsucht. Ich denke an das Blau in Rio: Das Meer! A praia. Den Strand! Was für ein Gewusel, was für ein Fest! Alle kommen zusammen. Für einmal scheinen alle gleich. Ich schaue auf mein dahinschmelzendes Stängelieis und erinnere mich an die Geschmäcker der brasilianischen Küche: Goiabada. Jabuticaba, Brigadeiro. Farova. Matté Leao, Bolinhos de queijo, Brahma, Churrasco, Caipirinha, Batida, Mango, Papaya, Banana, Açaí, der süsse Geschmack von Zwiebeln. Arroz Fejiao.
Für die, die im kommenden Sommer hungrig aus der Badi laufen, ist das Restaurant «Schlüssel» die perfekte Anlaufstelle in Seenähe (Haltestelle Fröhlichstrasse). Ich übernehme ab 1. Mai die Pacht von Roman Wyss und Werner Frei und freue mich sehr, Sie und euch dort zu treffen.

Alexandre Hannemann


Unser Gastschreiber
Alexandre Hannemann (1976) ist in Rio de Janeiro geboren und aufgewachsen. Mit zwölf Jahren kam er nach Deutschland, um die Matura zu machen. Nach drei Semestern an der Hotelfachschule Luzern zog er 2000 nach Zürich und arbeitete unter anderem im «Münsterhöfli», bevor er für fünfzehn Jahre zur Wirtschaft «Neumarkt» wechselte, wo er zuletzt als Geschäftsführer tätig war. Nun übernimmt er das Restaurant «Schlüssel» im Seefeld. – Seine Leidenschaft sind Reisen im Zusammenhang mit Wein.
Vor fünfzehn Jahren zog er in die Altstadt, an die Niederdorfstrasse und vor zwei Jahren an die Spiegelgasse, wo er mit seiner Partnerin Sabrina Zimmermann und den vier Kindern lebt.