Kellers goldener Wetterhahn

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Unsere Gastschreiberin Regina Dieterle lebt seit über 25 Jahren in der Altstadt. Sie beschreibt ihre besondere Beziehung zu einem barocken Gartenpavillon, zu einem verwinkelten Haus, zu einem goldenen Wetterhahn…

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist ein rostiges Gartentörchen, dahinter grasüberwachsene Treppenstufen. Ich höre Taubenflattern, spüre die Kühle einer hohen Halle, links darf ich eintreten. Ein grosses Zimmer. Wir Kinder vertiefen uns rasch ins Spiel und rutschen auf dem Boden herum. In der Ecke ein gelber Vorhang. Dahinter weiss ich meine schöne Tante. Sie kocht. Ein Spielzimmer mit Küche! Wie aufregend! In diesen Räumen, bei diesen Verwandten war alles ein bisschen anders, und das liebte ich. Ich erinnere mich auch, wie wir in der Halle um eine steinerne Frau herumkurvten, ich glaube, auf Dreirädern. Aber das ist jetzt vielleicht erfunden.
Nicht erfunden ist, dass es die «Venus» von Carl Burckhardt war, die damals ihren festen Platz im Gartenpavillon des Stockarguts hatte. Mein Grossvater hatte sie 1910 von seinem Basler Freund erworben. Weil man in der Heimatstadt des Künstlers das Modell – eine Dame der besseren Gesellschaft – zu kennen glaubte («Me kennt si jo! Me kennt sie jo!»), verzichtete Basel auf den Ankauf. So kam die «Venus» nach Zürich, wo mein Grossvater für die moderne Marmorskulptur extra den Pavillon mietete. Hier stand sie dann jahrzehntelang und wurde wie ein Familiengeheimnis gehütet. – Die Aufgabe, die «Venus» gut zu hüten, fiel Ende der 1950er-Jahre meinem Onkel zu. Er kam mit Frau und Kind und Sack und Pack in den etwas heruntergekommenen Pavillon und richtete hier sein erstes Architekturbüro ein (später in der Predigergasse). Irgendwann machte aber der Kanton seine Ansprüche auf den barocken Gartenpavillon wieder geltend (heute Konzertraum). So zog die «Venus» ins Kunsthaus (heute im Böcklin-Saal) und die Architektenfamilie aufs Land.

Am Weinplatz
Ich selber bin in Winterthur aufgewachsen, aber Zürich, die Welt im Kreis 1, war mir schon früh ein Begriff. Mit 17 kam ich an den Weinplatz zur wöchentlichen Bratschenstunde. Meine geniale Bratschenlehrerin war sommers auf dem Jolimont am Bielersee und half das Musiklager der
Familie Tillmann leiten. Von dort her kannte ich sie. Winters lebte sie mit Tillmanns am Weinplatz – über das Familienleben am Weinplatz hat Bettina Tillmann im Weltblatt (Altstadt Kurier, Oktober 2007) – umwerfend schön erzählt. Auch über ihre tatkräftige Mutter, die einen Maurer mit dem Vorschlaghammer ein Loch in die Wand zum (dem gleichen Besitzer gehörenden) Nachbarhaus schlagen liess, um mehr Raum für die Kinder zu schaffen. Ich erinnere mich, wie ich am Weinplatz die dunklen, verwinkelten Treppen hochstieg bis in die hochgelegene Wohnung meiner Lehrerin.
Einmal stürmte ihr Bruder an mir vorbei. Ein wunderbarer Geiger und leidenschaftlicher Barfussgeher, damals auch starker Gitanes-Raucher. Oben in der Wohnung erzählte er das Neuste: Im Hotel Storchen nebenan habe man ihm die Türe gewiesen! Barfussgehen nicht gestattet! Dabei habe er nur schnell Zigaretten holen wollen.

Am Rindermarkt
Mir kam damals das Bohème-Leben am Weinplatz unglaublich frei und weltstädtisch vor. Ja, so wollte ich auch einmal leben! Es geschah aber noch vieles andere, bis ich 1993 an den Rindermarkt 24 zog, in eine kleine 2-Zimmer-Wohnung mit schiefen Böden, geeignet zum «Chlürlen», ein Fest für meine Nichten und Neffen, wenn sie mich hier besuchten. Auch Gottfried Keller hat einst in dieser Wohnung gespielt, so bin ich überzeugt, ist über dieselben Treppenstufen gelaufen wie ich, hat dieselben Wege genommen wie ich. Ich liebe ihn, seit ich seinen «Grünen Heinrich» in der Schule gelesen habe.
Wie war mir daher, als ich jetzt vom Bett aus direkt auf den Turmhahn sah! Ich hatte die Stelle im Kopf, blätterte nach und las. Zweifellos, ich sass in einer literarischen Wohnung. Denn von meinem Fenster aus hatte ich denselben Blick wie Heinrich Lee, sah «ein langes hohes Kirchendach», das Dach des Predigerchors. «Auf diesem Dache», so heisst es weiter im Text, «stand ein schlankes, nadelspitzes Türmchen, in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte».
Der Knabe, ein guter Beobachter und ernster Denker, sieht dann, wie in der Dämmerung das Kirchendach versinkt und wie «nach und nach in grauen Schatten, das Licht […] an dem Türmchen hinauf[klomm], bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, dass dieser Hahn Gott sei». Sowohl für Heinrich Lee wie für Gottfried Keller bleibt es lebenslang eine offene Frage, was Gott sei und ob er denn überhaupt sei. Aber der goldene Wetterhahn funkelt bis heute.

Am Predigerplatz
Seit 2007 wohne ich mit Willi-Peter, meinem langjährigen Partner und Ehemann, am Predigerplatz 2. Es ist ein Riesenglück. Hier hat Willi sein Atelier, hier malt er. Ich dagegen habe meinen Schreibort in einem Separatzimmer über meiner ehemaligen Rindermarkt-Wohnung. Zwar ist der funkelnde Wetterhahn von hier aus etwas zur Seite gerückt, aber dafür sehe ich auf die Turmuhr, die es zu Kellers Zeiten noch nicht gab. Sie schlägt in schöner Regelmässigkeit die Stunde und macht, dass ich mich nicht vergesse. – Aber was heisst vergessen! Ich fördere ja Handfestes zutage, Literarisches, Zürcherisches. Zum Beispiel kann ich gut belegen, dass der ältere Gottfried Keller am liebsten im Zunfthaus zur Meisen sass (das Restaurant im 1. Stock wurde 1886 geschlossen) und hier gerne mit seinen Freunden «junge und alte Weine, Burgunder und Champagner» durchprobierte, später indes im «Saffran» einkehrte und schliesslich im Wirtshaus «Weisshaar» an der Spiegelgasse 19 (1937 abgetragen, heute Leuenplätzli). Schräg gegenüber probt heute der Altstadtchor unter der Leitung von Michael Kleiser.
Da wären wir also wieder bei den Tillmanns, beim Jolimont. Bettina Tillmann und ihr Mann Michael Kleiser haben unterdessen die Leitung der Musiklager übernommen, ich aber singe – wenn immer es geht – mit im Chor. Zum Beispiel: «Mis Dach isch de Himmel vo Züri». Oder das «Lied vom goldenen Wetterhahn». Dieses, so gestehe ich, müsste zwar erst noch in Musik gesetzt werden. Vielleicht tut es unser Nachbar, der Komponist Mario Beretta? Ich kann es mir gut vorstellen, im Gottfried-Keller-Jahr 2019, und glaube gar, er sieht von seinem Küchenfenster aus den goldenen Wetterhahn funkeln.

Regina Dieterle


PS: In der «Öpfelchammer» sass Keller natürlich auch und becherte und pichelte hier mit Fontane (1865). Nur haben sie zeitlebens darüber geschwiegen und lassen uns heute frei darüber phantasieren.

Unsere Gastschreiberin
Regina Dieterle (1958) ist in Winterthur aufgewachsen. Ihr Germanistikstudium an der Uni Zürich schloss sie 1986 ab. Danach arbeitete sie eine Zeit lang in der Dokumentation des Tages-Anzeigers. Ihrer Dissertation über Theodor Fontane zum Thema Vater – Tochter liess sie weitere Publikationen über den Autor folgen. 2018 ist ihre (800-seitige) Fontane-Biographie erschienen. – Parallel zu ihrer publizistischen Tätigkeit arbeitet sie als Deutschlehrerin an der Kantonsschule Enge.
1993 zog sie in die Altstadt, wo sie seit 2007 mit ihrem Mann, dem Maler Willi-Peter Hummel wohnt.

Foto: EM