Immer wieder Altstadt

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Für unseren Gastschreiber Andreas Ackermann hat die Altstadt eine besondere Bedeutung. Hier hat er die Schule besucht, ist er ausgegangen, hat er gewohnt. Hierher ist er immer wieder zurückgekehrt.

Ich bin nicht in der Altstadt aufgewachsen, und ich lebe auch heute nicht in der Altstadt. Trotzdem ist sie seit meiner Kindheit eine beständige Kulisse, ein immer wiederkehrendes Bühnenbild für das Theater, das ich mein Leben nenne. Mein Elternhaus steht im Seefeld, dort, wo der See noch kaum begonnen hat, fünf Minuten zu Fuss von der Altstadt entfernt. Schon früh wurden meine Schritte in diese Richtung gelenkt, zunächst zur Spielgruppe in der Helferei des Grossmünsters, später in den Kindergarten Neumarkt. Dort entdeckte ich schnell den «Maali-Egge» als meinen Lieblingsort: Die Plätze dort waren nicht umkämpft, und ich konnte beim Malen ungestört meinen Gedanken nachhängen. Und plötzlich merkte ich, dass meine Zeichnungen die Aufmerksamkeit und den Respekt der anderen Kinder erweckten.

Langer Schulweg
Eingeschult wurde ich dann ins Schulhaus Hirschengraben. Mein Schulweg war lang, der längste in meiner Klasse. Doch er hatte den Vorteil, dass ich im Gegensatz zu meinen MitschülerInnen nicht nur in die nächste Gasse, sondern in den nächsten Stadtteil musste, und auf dem Weg dahin noch fast die ganze Altstadt durchqueren konnte. Die für eine solche Strecke unentbehrliche Wegzehrung holte ich mir bei der Bäckerei Karli am Neumarkt, welche uns Kinder immer grosszügig mit «Verbrochenem», also Ausschussware aus der Backstube, versorgte.
Auch mein Eintritt ins Erwerbsleben geschah in der Altstadt: Meine Familie war mit einem Strassenmaler befreundet, der in der Nähe des Bellevues altehrwürdige Gemälde klassischer Meister mit Kreide auf den Asphalt kopierte. Ich durfte mich hinzugesellen und daneben das Bild einer meiner zahlreichen selbst entworfenen Comicfiguren malen. Ein aus heutiger Sicht ungestaltes Werk, voll unbedarfter Anleihen bei allem, was damals meine Comichelden-Welt bevölkerte. Aber einige gerührte (oder mitleidige) PassantInnen konnten nicht umhin, mir «wie dem Grossen» einige Münzen hinzuwerfen; mein erstes selbstverdientes Geld und eine Inspiration, das Zeichnen bis heute beizubehalten.

Heimvorteil
Später, als ich das Gymnasium an der Kantonsschule Hohe Promenade besuchte, war ich, der früher Auswärtige, plötzlich der seit Kindsbeinen Ansässige, der seinen meist ausserhalb der Stadt aufgewachsenen neuen MitschülerInnen die versteckten Winkel und Gassen der Altstadt zeigen und mit Anekdoten dazu aufwarten konnte. Wer von ihnen kannte Frau Binder, den Klausbrunnen oder die exotischen Instrumente, die es im «Musig Hüsli» zu entdecken gab? Doch die alten Orte genügten bald nicht mehr: Unser neues Interesse galt dem Niederdorf. Dort befanden sich die (damals) angesagten Kleider- und vor allem Plattenläden wie der «Jamarico», der sich inmitten von Stripclubs und schäbigen Bars befand. Den Anflug von Verruchtheit, der noch immer in diesen Gassen schwebte, untermalte die Musik aus der amerikanischen Unterwelt in unseren Kopfhörern in perfekter Weise.

Neue Perspektive
Nach Studium, Auslandaufenthalten und kurz vor der Geburt unseres ersten Sohnes zog ich mit meiner Lebensgefährtin an die Krebsgasse, gegenüber des Cabarets Voltaire. Nun war ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich in der Altstadt wohnhaft – und mit Kindern als Bezugspunkt entdeckte ich sie ein weiteres Mal neu. Wie war es möglich, dass ich einen Ort wie die Trittliwiese nicht gekannt hatte? Vor allem aber entdeckte ich neue Menschen hinter den alten Fassaden. Der tägliche Schwatz mit den Mitarbeiterinnen der Condomeria oder der Besuch beim Kaffeeröster im Schwarzenbach wurden zu farbigen Eckpunkten unseres Alltags. Und dann wurde unser Sohn in denselben Kindergarten eingeschult, den ich selbst besucht hatte. Der Geruch im Eingang war nach über dreissig Jahren noch genau derselbe; den «Maali-Egge» gab es in dieser Form nicht mehr.

Zeichnen und Musik
Das Zeichnen hätte ich zu jener Zeit fast aufgegeben. Doch wieder geschah es in der Altstadt, dass ich dazu neu ermutigt wurde: Beim Comicladen an der Froschaugasse wurde ein Verkäufer gesucht, und ich hatte mich beworben.
Den Lebenslauf zu meinem ansonsten eher schmalbrüstigen Dossier hatte ich in Form eines Comics eingereicht; und tatsächlich meldete sich der Geschäftsführer bei mir, der mir zwar nicht die Stelle anbot, aber so begeistert vom Comic war, dass er mir riet, das Zeichnen zu meinem Beruf zu machen. 
Nach der Geburt unseres dritten Kindes verliessen wir die Altstadt wieder, um uns in Wollishofen niederzulassen. Der Krebsgasse aber blieb ich treu, dank der Musik, einer neu entdeckten Leidenschaft. Seitdem probe ich mit meiner Band «kai fisch» im Keller jenes Hauses, in dem sich Zürichs erste Post befand und ein gewisser Pestalozzi einmal wohnte. Die Altstadt, die ich nun wieder als «Auswärtiger» besuche, ist für mich ein Ort der Entrückung in musikalische Gefilde geworden. Und sie ist der Ort unserer ersten «richtigen» Auftritte, im Rahmen des Altstadt-Adventskalenders oder im Café Zähringer, denen hoffentlich noch viele weitere folgen!
Bei jeder Rückkehr in die Altstadt freue ich mich über Bewährtes, Altbekanntes, in verschnörkelte Hausfassaden eingewobene Erinnerungen. Doch wie die Schaufenster und Überschriften der Geschäfte ständig wechseln, ist mir die Altstadt gleichzeitig Ort der Inspiration, der Entdeckungen und des Neubeginns. Sie ist mehr als eine Kulisse: Sie ist eine Allegorie meines Lebens.

Andreas Ackermann

P.S: Wenn da mal guter Sound aus den Kellerfenstern auf das Pflaster vor dem Cabaret Voltaire dröhnt, könnte es «kai fisch» sein, der sich immer über Applaus von der Gasse freut, sei es von alteingesessenem oder durchreisendem Altstadt-Publikum!


Unser Gastschreiber
Andreas Ackermann (1981) ist im Seefeld aufgewachsen. Kindergarten und Primarschule besuchte er in der Altstadt, sodann das Gymnasium Hohe Promenade. An der Uni Zürich studierte er Allgemeine Sprachwissenschaft und Arabisch, mit Lizentiat.
Er arbeitete an diversen Orten als Deutschlehrer für Asylsuchende. Seit 2014 ist er bei der Caritas in Goldau (Kanton Schwyz) in der Rückkehrhilfe tätig. – Parallel dazu zeichnet er seit 2007 Cartoons, unter anderem für den Nebelspalter, Edito und daslamm.ch (siehe: ogerview.com).
Von 2011 bis 2017 wohnte er in der Altstadt, heute lebt er mit seiner Partnerin und drei Kindern in Wollishofen. Er spielt in der Band «kai fisch» (Bassgitarre, Gesang), mit Proberaum in der Altstadt.   

Foto: EM