Man darf wieder fast alles

Nach Lockerungsschritten des Lockdown am 27. April und 11. Mai 2020 folgte am 27. Mai die Ankündigung weiterer Schritte per 30. Mai und 6. Juni. – Und zusehends kehrt wieder Leben ein in den ­Gassen, man hat wieder eine Perspektive. Zaghaft, dann nachhaltiger, wird auch wieder eingekauft und konsumiert im Quartier. Denn jetzt gilt es, das vorhandene Angebot auch zu nutzen.

Die Haare schön, wagt man sich am Montag, 11. Mai, erstmals wieder nicht nur aus dem Haus, sondern in den einen oder anderen Laden. Wir erinnern uns: Da war doch dieser Corona-Lockdown. Wobei es ja genau genommen kein Lockdown, sondern ein Shutdown war, denn in der Schweiz war zu Hause zu bleiben eine zwar dringliche Empfehlung des Bundesrats, und wer will schon dem Bundesrat eine Bitte abschlagen, aber kein Zwang. Anders als in Italien, Frankreich, Spanien etc. wurde hierzulande niemand gebüsst, bloss weil er das Haus verlassen hat.
Am schlimmsten mag das ständige Zu-Hause-Bleiben für die alten Menschen gewesen sein, und für die jungen. Die einen stecken im Alterszentrum fest oder dürfen ihre Enkel nicht sehen, die anderen vermissen ihre Peers schmerzhaft. Wobei: Auch Menschen mittleren Alters und Kinder halten sich ja doch gern im Freien auf, mit etwas weniger oder mehr Bewegung. Und auch wenn das Social Distancing eigentlich ein Physical ­Distancing ist: schlimm genug ist das auf alle Fälle! Keine natürlich nahen Begegnungen, keine Berührungen, ausser mit in einer VG (Virusgemeinschaft) lebenden Mitmenschen.
Da tritt man also, die Haare beim Coiffeur seines Vertrauens zurecht gemacht, der bereits zwei Wochen davor seiner Arbeit wieder nachgehen konnte, selbstbewusst auf die Gasse, die ganze Haarpracht präsentierend. Und gewahrt da und dort sich öffnende Türen und Tore.
Gewisse Geschäfte werden schon nach kurzer Zeit regelrecht belagert von in Zwei-Meter-Abstand auf Einlass wartenden Kundinnen und Kunden. Eine vor einem Kleiderladen in langer Reihe wartende junge Frau, gefragt nach dem Grund des Anstehens und ob da wohl Rabatte locken, antwortete: «Einfach weil das ein mega geiler Laden ist!» Andere Läden bleiben erst mal eine Weile eher schwach besucht. Sind sie weniger trendy, traut ihre Stammkundschaft der Sache noch nicht so recht und bleibt ­vorerst in den eigenen vier Wänden? Viel wurde darüber diskutiert, ob die vom Bundesrat verfügten Lockerungen des strengen Lockdown-Regimes zum genau richtigen Zeitpunkt, verfrüht oder zu spät erfolgten.

Corona ein Schnippchen schlagen
Das Lieblingscafé hat noch geschlossen, weil Montag ist, aber auch am Dienstag bleiben die Läden unten. Weil es sich mit den gegebenen Vorschriften allem Anschein nach nicht für alle lohnt, den Betrieb bereits jetzt wieder aufzunehmen. Andere freuen sich, wieder Gäste empfangen zu dürfen, und tragen zum Hochgefühl bei, den Kaffee endlich wieder anderswo als daheim geniessen zu können. Und das Mittag-, das Abendessen erst!
Manche der Restaurants und Geschäfte haben während der acht Wochen dauernden Zwangspause eine Auf­frischung erfahren. Sie wirken frisch wie ein Frühlingstag und lassen keine Wünsche offen. Die Wände neu gestrichen, die Theke überholt, die Gartenmöbel abgeschliffen und lackiert, erwartet die Gäste ein Ambiente, wie man es sich nur wünschen kann.
Die Abstandsregeln werden teils mit Fantasie umgesetzt. So schmücken zwischen manchen Tischen im Freien Pflanzentröge den nötigen Abstand. Und sind es Plexiglaswände, so scherzen die Stammkunden, man fühle sich wie im Papa-Mobil, irgendwie kugelsicher.
Dieser prächtige Frühling dauert glücklicherweise über die Lockdownzeit an, und so lässt sich im Freien wunderbar der erste Apéro geniessen, die vorbei flanierenden Menschen beobachten. Besonders erhaben ist dies übrigens im Hotel Platzhirsch möglich, wo im Obergeschoss zwei gegen Spitalgasse und Hirschenplatz gerichtete Balkone freier Zimmer für einen lauschigen Apéro genutzt werden können. Erfinderisch zu sein ist auch in dieser Zeit ein Vorteil.

Neue Lebenslust
Man trifft sich ja auch vermehrt wieder auf der Gasse, da ist ein fröhliches Wiedersehen samt Palaver wie am ­abgesagten Frühlingsfest! Und so kommt langsam wieder Leben in die Bude, pardon, Gassen.
Die am 27. Mai erfolgte Ankündigung der weiteren Lockerungsschritte auf den 30. Mai und 6. Juni lässt dann bei vielen das Herz (noch) höher schlagen: Kino! Theater! Museen! Badi! Utoquai und Blatterwiese!
Die Ansteckungszahlen haben sich dank der erfolgreichen Massnahmen auf so tiefem Niveau eingependelt, dass man wieder mehr wagen kann. Distanzhalten und Hygieneregeln gelten noch immer. Doch die Grosseltern dürfen nun wieder ihre Enkel hüten, die Jungen ihre Clique treffen, alle dürfen wieder shoppen und sich in Restaurant oder Bar verabreden, die Kinder herumrennen, wenn sie grad nicht in der Schule sind…
Zu diesem Dürfen kommt eine Empfehlung, diesmal nicht vom Bundesrat: Wer die finanziellen Mittel dazu hat, kann sich nun wieder etwas gönnen, kann einkaufen, konsumieren. Und wer die Einkaufsgewohnheiten nun vom Internet wieder ins reale ­Leben verlagert, tut damit nicht nur sich selbst, sondern dem Gewerbe und den Gastbetrieben im Quartier einen grossen Gefallen.

Elmar Melliger